Kathrin Anselm

Die Neuerfindung des Fremdenzimmers

Auf der ganzen Welt zu Hause sein: Airbnb hat das Reisen revolutioniert. Kathrin Anselm, General Manager für Deutschland und Zentraleuropa, über den nächsten Paradigmenwechsel – und warum sie ihren Job liebte, lange bevor sie ihn hatte. 

Ein Haus am See vielleicht? Oder doch lieber ein Schloss? Eine Blockhütte? „Vor nicht allzu langer Zeit war Reisen eine Frage des Wann und Wohin“, sagt Kathrin Anselm. „Heute geht es vielen Menschen eher darum, was sie erleben und wie sie sich dabei fühlen wollen.“ Sie suchen nicht bloß eine Unterkunft für die großen Ferien oder ein Hotel fürs Wochenende, sondern das Andere, Außergewöhnliche, die Überraschung, womöglich sogar die Herausforderung. Ziel und Zeit? Nicht so wichtig. Deswegen kann man schon auf der Startseite von Airbnb mit einem Klick zum Beispiel nach Bauernhöfen suchen, nach Baumhäusern und Hausbooten, nach Inseln und Höhlen – und natürlich nach Schlössern, Blockhütten oder einem Haus am See. „Wir wollen die Nutzer in dem Moment inspirieren, in dem sie mit uns in Kontakt treten. Das führt dazu, dass Menschen nicht mehr ausschließlich in den Hotspots buchen, sondern andere Regionen sowie alternative Arten der Unterkunft für sich entdecken.“

Wenn neue Orte attraktiv werden, entzerrt sich der Tourismus an den besonders stark überlaufenen wie von selbst. Und dabei handelt es sich nicht um eine bloße Theorie: 2022 lagen 14 Prozent aller gebuchten Nächte in den zehn Top-Destinationen, in den Jahren davor waren es noch 20 Prozent gewesen. „Das ist der Beginn eines Paradigmenwechsels“, sagt Kathrin Anselm. „Ich kann gar nicht sagen, wie begeistert ich davon bin.“

Dass Kathrin Anselm regelrecht von Airbnb schwärmt, liegt nicht nur an dem bemerkenswerten Geschäftsmodell. „Ich war Nutzerin der ersten Stunde und bin schon früh mit Airbnb gereist. Und ich war zwischendurch auch immer mal Gastgeberin. Die Marke strahlte für mich so gute Werte aus, lange bevor ich hier anfing“, sagt sie. „Es war für mich eine absolute Love Brand.“

Berlin, Alexanderplatz. Wer im 13. Stock des „Hauses des Reisens“ aus dem Fenster schaut, dem liegt die Stadt zu Füßen. Fernsehturm, Scheunenviertel, Prenzlauer Berg: Mehr mittendrin geht wirklich nicht. Ein leuchtendes „Belong Everywhere“ hängt an der Wand der Airbnb-Zentrale. Der Spruch stammt aus einer früheren Werbekampagne und meint so viel wie: Fühl dich überall zu Hause und sei offen für neue Eindrücke. Dazu zeigt ein Foto einen Elefanten, der mit Delfinen schwimmt.

Airbnb entstand, weil den Gründern Joe Gebbia und Brian Chesky die Miete für ihre WG in San Francisco zu teuer wurde und sie ein Zimmer untervermieteten. Dort übernachteten drei Designer, die kurzfristig zu einer Konferenz wollten, aber kein bezahlbares Hotel mehr gefunden hatten. Anfangs ging es vor allem um die Vermittlung privater Unterkünfte, mit der Aussicht auf ein günstiges Bett für die Gäste und einen kleinen Zuverdienst aufseiten der Gastgeber. Heute sind unter den 6,6 Millionen Angeboten in mehr als 220 Ländern und über 100000 Städten auch gewerbliche Vermieter vertreten. Doch CEO Chesky hat gerade angekündigt, die Vermittlung privater Zimmer wieder stärker in den Mittelpunkt rücken zu wollen und Airbnb sozusagen zurück zu seinen Wurzeln zu führen. „Wir sind konstant in der Veränderung“, sagt Kathrin Anselm, „dazu gehört auch die Rückbesinnung aufs Kerngeschäft.“ Gerade in einer Zeit der steigenden Preise und der zunehmenden Vereinsamung vieler Menschen. „Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, diesen Teil des Angebots wieder stärker in den Vordergrund zu stellen.“ Ein Zimmer, das bedeute nämlich auch: gemeinsam mit dem Gastgeber eine Wohnung zu teilen.

Denn hinter der Plattform stand immer die Idee, Menschen zusammenzubringen. Wenn Kathrin Anselm in San Francisco ist, am Hauptsitz des Unternehmens, übernachtet sie in einem Airbnb: „Die Familie, bei der ich wohne, zahlt mit den Einnahmen den College-Kredit ihrer Kinder ab.“ Und während sie erzählt, bekommt man ein ziemlich gutes Gefühl dafür, was diese Sache mit den Wurzeln wirklich bedeutet: „Ich komme da an, habe einen Jetlag, will meine Ruhe haben und weiß, das bequemste Bett der Welt steht in diesem Gästezimmer. Aber wenn ich übers Wochenende da bin, dann stellen sie mir einen Espresso und Kekse hin, und ich bin froh, mich auch mal mit jemandem zu unterhalten.“ Irgendwo zu übernachten ist das eine, ein paar Tage mit anderen Menschen zusammenzuwohnen etwas ganz anderes. Es geht eben um mehr als das, was man früher so hübsch distanziert „Fremdenzimmer“ nannte. Das merkt man auch daran, dass junge Leute heute nach „einem Airbnb“ suchen: Die Marke ist zum Synonym für das Produkt geworden. Und das, obwohl Airbnb nichts anderes bedeutet als „Luftmatratze & Frühstück“, ein einfacher Schlafplatz mit ein bisschen Familienanschluss.

Dass Kathrin Anselm und Airbnb überhaupt zueinanderfanden – es klingt wie Zufall. Oder war es womöglich Schicksal? Aufgewachsen in Südhessen, studierte sie im französischen Reims und in Reutlingen im Süden Deutschlands. Nach ihrem Abschluss 1998 arbeitete sie als Unternehmensberaterin, unter anderem für den TV-Konzern ProSieben-Sat.1. Zwölf Jahre später wechselte sie nach Berlin, weil ein Geschäftsfreund ihr dazu riet. „Also habe ich mein Herz vorausgeworfen und bin in die Tech-Szene gekommen“, sagt Kathrin Anselm. Es folgten Jobs bei verschiedenen Start-ups, und schließlich übernahm sie die Geschäftsführung bei einer E-Commerce-Tochter der Otto-Gruppe. „Dann ist meine Mutter krank geworden. Ich wollte mich engagieren und öfter bei meinen Eltern zu Hause sein. Das war der Moment, in dem ich flexibler arbeiten wollte.“ Also machte sie sich selbstständig als Interimsmanagerin für Tech-Unternehmen. „Das lief hervorragend, ich hatte fantastische Mandate, ich wollte da überhaupt nicht raus.“ Sie arbeitete unter anderem für den britischen Essenslieferdienst Deliveroo. Dann kam der Anruf eines Headhunters für Airbnb. „Ich wollte das lässig sehen, aber ich war von Anfang an ganz tief drin“, sagt Kathrin Anselm. Die Geschichte mit der Love Brand. Entscheidend war wohl auch, dass sie ihren Vater weiterhin bei der Pflege der Mutter unterstützen konnte. „Ich bin stolz, bei einem Unternehmen zu arbeiten, das mir den nötigen Freiraum lässt.“

In ihren vorherigen Jobs, sagt Kathrin Anselm, habe man sie oft gebeten, ein Wertesystem für ein Unternehmen aufzubauen. „Aber das muss von den Gründern vorgelebt werden, in alle Geschäftsprozesse eingebunden sein“, erklärt sie. Dass dies bei Airbnb ganz selbstverständlich sei, „das war für mich dann tatsächlich noch mal eine Überraschung“.

Sich zu Werten wie Gemeinschaft und Zugehörigkeit bekennen – dazu gehört auch, wie man mit Kritik umgeht. Denn so begeistert viele Reisende von Airbnb auch sind, in manchen Städten macht man dem Unternehmen Vorwürfe, den Massentourismus zu befördern und die Mietpreise zu verderben. Außerdem würden viele Gastgeber ihre Einnahmen nicht versteuern. In Berlin müssen Anbieter deshalb seit März dieses Jahres eine Registriernummer angeben, wenn sie ihre Unterkunft für weniger als drei Monate am Stück vermieten. „Wir wollen als Partner der Städte wahrgenommen werden“, sagt Kathrin Anselm. „Denn wir brauchen die Städte, aber sie brauchen auch uns. Tourismus ist in den Metropolen ohne ein Angebot wie unseres nicht mehr denkbar.“

Jedes Quartal bekommt Kathrin Anselm einen Reisegutschein über 500 Dollar für Airbnb. Es geht darum, das Produkt, für das man steht, immer wieder auf den Prüfstand zu stellen, Botschafter zu sein. „Diese Firma ist jetzt 15 Jahre alt. Sie ist börsennotiert, alles ist geordnet. Trotzdem fühlt sie sich an wie ein Start-up“, sagt Kathrin Anselm. „Es blubbert an allen Ecken und Enden, die Organisation ist in Bewegung. Man muss geistig flexibel bleiben, es gibt ständig etwas Neues.“

Und das oft schneller, als man ahnen kann. Einen Tag nach unserem Interview schon taucht auf der Homepage von Airbnb, dort, wo man so gezielt nach verrückten Zielen suchen kann, eine neue Rubrik auf, ganz links, wo man zuerst hinschaut: „Zimmer“. So einfach kann es sein, sich daran zu erinnern, wie man angefangen hat.

Text: Michael Fuchs
Foto: © Alena Schmick
Datum: Juni 2023

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