Die Klinik der Zukunft

Krankenhäuser müssen neu gedacht werden. Die Digitalisierung und mit ihr künstliche Intelligenz bieten innovative Anwendungsmöglichkeiten – auch die Berliner Charité geht neue Wege.

Noch sind sie Visionen auf Papier und als Pixel. Doch bis zum Jahr 2030 will die Charité ihre ehrgeizigen Pläne in hochmoderne Gebäude verwandelt haben. Dann sollen zum Beispiel auf dem Campus Virchow-Klinikum ein Herzzentrum, ein Tumorzentrum und eine Fertigung für Pharmazeutika stehen. Auch am Campus Mitte wird gebaut und saniert werden. Dort entwickelt die Charité neben dem alten Bettenhaus ein zweites Hochhaus und mit ihm ein Neuro- und ein Demenzzentrum. Insgesamt sollen bis zum Jahr 2050 rund 6,6 Milliarden Euro in die „neue Charité“ fließen.

Doch nicht nur baulich stellt sich Berlins wichtigstes Krankenhaus neu auf. Auch konzeptionell und technisch will die Klinik neue Wege gehen. Denn das Krankenhaus der Zukunft wird ein Krankenhaus mit weniger Personal sein. „In den nächsten zehn Jahren werden wir aufgrund des demografischen Wandels einen erheblichen Teil unserer Beschäftigten verlieren, durch Renteneintritt oder Jobwechsel“, sagt der Vorstandsvorsitzende der Charité, Heyo Kroemer. „Es wird weniger stationäre Betten geben, nicht alle Krankenhäuser werden alle Leistungen anbieten können.“

Die Schwarmintelligenz von Fachärztinnen nutzen 

Vor allem die Digitalisierung könnte helfen, das Patientenwohl auch mit weniger Personal sicherzustellen. Bis zum Jahr 2030 sollen alle Abläufe in der Gesundheitsversorgung und der Administration durchgängig digital unterstützt sein. So schreibt es die Klinik in ihrem Leitbild. Die Charité erweitert deshalb ihr Leistungsspektrum im ambulanten Bereich. Menschen mit sogenannten Anfallsleiden, also beispielsweise Krämpfen oder Epilepsien, soll künftig eine Diagnostik zu Hause ermöglicht werden, der übliche mehrtägige Krankenhausaufenthalt entfällt. Die Charité stattet die Patienten dazu mit einem mobilen EEG-Gerät und einer Kamera aus. So erstellen sie zu Hause ihr EEG selbst, während sie ihrem üblichen Tagesablauf folgen. Erst die Datenauswertung erfolgt in der Klinik. Die Ärztin kann sich dabei von KI unterstützen lassen. Der Algorithmus ist in der Lage, aus den erhobenen Daten mögliche Krankheitsverläufe vorherzusagen.

Im Operationssaal sollen schnellere Datenübertragungen ganz neue Möglichkeiten eröffnen: Chirurginnen könnten einen OP-Roboter aus der Ferne steuern. Was ist alles möglich, wenn Operationssäle mit dem Standard 5G vernetzt werden? Dieser Frage geht die Charité in einem deutsch-französischen Forschungsprojekt nach. Drei OP-Säle in Berlin, Mannheim und Straßburg werden dazu lokal in privaten und somit datensicheren 5G-Netzen miteinander verbunden.

Derzeit sei man noch dabei, medizinisches Gerät so auszurüsten und anzupassen, dass es über den Standard miteinander kommunizieren kann. Zugleich werde Personal für den Einsatz geschult, sagt Johannes Horsch, Projektleiter beim Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung, das das Vorhaben koordiniert.

Die Vision: Der Tele-Operateur erhält eine vollständige Umgebung zur Überwachung der OP-Situation, inklusive Videostreams aus dem OP, Audiokommunikation mit dem OP-Team und einer Steuerkonsole für den OP-Roboter. Alle für die Operation wichtigen Daten werden über das 5G-Netz übertragen. Künstliche Intelligenz kann dabei Bilder der OP auswerten. Die Aufnahmen werden zudem von Expertinnen an verschiedenen Orten verfolgt, die konsiliarisch die OP begleiten und über den weiteren Verlauf beraten. So ließe sich chirurgische Schwarmintelligenz weitgehend ortsunabhängig anwenden.

Fachkräftemangel verzögert das Digitalisierungstempo 

Ein anderes Szenario: Ähnlich wie bei der Kommissionierung von Waren in einem Logistikzentrum sollen Roboter die nötigen Instrumente und Materialien für eine Operation bereitstellen. Im Gegensatz zum stark beanspruchten OP-Personal wären sie jederzeit und nimmermüde einsetzbar. Doch noch ist es nicht so weit. „OP-Säle stellen an ferngesteuerte und automatisierte Systeme extreme Anforderungen hinsichtlich der Zuverlässigkeit, der Präzision und der Anpassung an ihre dynamische Umgebung“, sagt Horsch.

Wann diese Szenarien in der Alltagsmedizin ankommen könnten, darauf will sich der Experte nicht festlegen. Aber: „Die Technik ist hier weniger der Flaschenhals als regulatorische Anforderungen wie zum Beispiel Gerätezulassungen oder Datenschutzbestimmungen im Gesundheitsbereich“, sagt der Wissenschaftler. Das Projekt läuft noch bis Ende des Jahres 2024, das Budget beträgt 2,7 Millionen Euro.

Das Geld dürfte gut angelegt sein. Denn das Einsparpotenzial durch die Digitalisierung im Gesundheitswesen ist längst nicht ausgeschöpft, hat eine Studie der Unternehmensberatung McKinsey aus dem vergangenen Jahr ergeben. Insgesamt habe das Gesundheitswesen hierzulande durch die Digitalisierung im Vergleich zum Jahr 2018 rund 1,4 Milliarden Euro pro Jahr gespart. Die Ausgaben für Gesundheit könnten aber jährlich um bis zu 42 Milliarden Euro niedriger sein, wenn das Land konsequent auf digitale Technologien gesetzt hätte, heißt es in der Studie.

In Deutschland bremst vor allem der Fachkräftemangel die Digitalisierung. Aus dem Krankenhauszukunftsfonds stehen den Kliniken 4,3 Milliarden Euro für verpflichtende Digitalisierungsprojekte zur Verfügung. Doch die Vorhaben, zum Beispiel die Einrichtung eines Patientenportals, kommen kaum voran. „Der ohnehin schon bestehende Fachkräftemangel, insbesondere in der Krankenhaus-IT, wird dadurch verstärkt, dass 1900 Krankenhäuser nun fachliche und organisatorische Unterstützung für die verpflichtenden Projekte anfordern“, sagt Jan Arfwedson, Geschäftsführer der auf das Gesundheitswesen spezialisierten Beratungsfirma Aurasec.

Künstliche Intelligenz hilft beim Sparen

Ein Projekt in Großbritannien indes zeigt, wie künstliche Intelligenz Potenziale heben kann. Dort unterstützt das staatliche Gesundheitssystem NHS seit Februar ein Pilotprojekt in Essex, das Klinikpersonal effizienter auslasten soll. Der Hintergrund: Jeder zwölfte Patient verpasst seinen Krankenhaustermin – sei es zur regelmäßigen Vorsorgeuntersuchung, zur Konsultation oder ambulanten Behandlung. Hochgerechnet auf Großbritannien entstehe dadurch ein Schaden von knapp 1,2 Milliarden Pfund, rechnet der NHS vor. 

Eine künstliche Intelligenz soll nun aufgrund anonymisierter persönlicher Daten und unter Einbeziehung etwa von Wetter- und Verkehrsbedingungen voraussagen, wer wann welchen Termin verpassen könnte. So soll rechtzeitig ein geeigneterer Termin gefunden werden, damit im Krankenhaus kein Leerlauf entsteht. „Flächendeckend kann das System helfen, jährlich mehrere Hundert Millionen Pfund einzusparen“, sagt der britische Gesundheitsminister Stephen Barclay.

In Südkorea übernimmt KI bereits Routineaufgaben des Pflegepersonals. Im Severance Hospital der Stadt Yongin wird der Gesundheitszustand der Patientinnen weitgehend automatisiert überwacht. Die Herzfrequenz oder den Blutdruck misst nicht mehr das Personal. Solche Daten übermitteln Wearables, also digitale Geräte, die die Patienten am Körper tragen, direkt an einen zentralen Rechner. KI beurteilt, ob die gemessenen Werte Anlass zur Sorge geben. Ist dies so, schlägt das System Alarm. Ein Tracking-System leitet das medizinische Personal direkt zu der Patientin.

Text: Andreas Schulte
Foto: © ProStockStudio / Shutterstock, © Charité / Wiebke Peitz, © Fraunhofer IPA 
Datum: Juni 2023

Das könnte Sie interessieren:

Auf ein offenes Wort:

Wie lässt sich Bescheidenheit leben?

Die Neuerfindung des Fremdenzimmers

Kathrin Anselm, Airbnb, über den nächsten Paradigmenwechsel.

Das Beste zweier Welten

Neue Konzepte für das Leben auf dem Land

i